Plenarvorträge

Freitag, 18. Februar 2022 (14.00–19.00)

Die Plenarvorträge finden alle online statt!


 

 

Marion Döll

Grundprobleme und Grenzen der Sprachkompetenzfeststellung

Die Sprachkompetenzfeststellung in Form von Testungen, Beobachtungen und Profilanalysen ist fester Bestandteil der Diskurse zu Sprachbildung und Migrationspolitik und die Nutzung Sprachkompetenz feststellender Verfahren in der Praxis der Schul- und Erwachsenenbildung normalisiert. Die Selbstverständlichkeit, mit der sprachdiagnostische Verfahren sowohl als Grundlage für adaptive Sprachbildung als auch als Regulationsinstrument Verwendung finden, lässt den Eindruck entstehen, dass Sprachkompetenz problemlos operationalisierbar und exakt messbar sei. Ausgehend von der Darstellung zentraler verfahrenstheoretischer Grundlagen möchte ich in meinem Vortrag näher beleuchten, warum es sich dabei um einen Mythos handelt. Dabei soll einerseits auf grundlegende Schwierigkeiten hinsichtlich klassischer Gütekriterien wie Normierung und Validität eingegangen werden, andererseits wird die einseitige Fokussierung auf klassische Gütekriterien bei der Beurteilung von Verfahrensqualität und -eignung kritisch in den Blick genommen. Darüber hinaus werden sich aus linguistischer Sicht ergebende Hürden der Kompetenzmodellierung dargelegt und auch migrationspädagogische Aspekte angesprochen. Abschließend wird die Frage diskutiert, welche Konsequenzen für den Einsatz von Sprachkompetenz feststellenden Verfahren in der Schul- und Erwachsenenbildung vor dem Hintergrund der aufgezeigten Problematiken zu ziehen sind. 

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© Josef Philipp, PH OÖ

Udo Ohm

Sprachtests als Akteure im Unterricht. 
Eine pragmatisch fundierte soziokulturelle Analyse 

Sprachtests sollen die Ausprägung von Kompetenzen erfassen und mit Blick auf den Einsatz im Unterricht im Idealfall Auskunft über den Sprachstand von Lerner*innen und Ansatzpunkte für Fördermaßnahmen geben können. Neben der Einhaltung von Gütekriterien wie Objektivität, Reliabilität und Validität ist dabei die Frage zentral, auf welche unterrichtsinternen (z.B. sprachlich-fachliche Progression) und –externen Bezugsgrößen (z.B. curriculare Vorgaben) sich Lehrpersonen bei der „Bewertung“ von Testergebnissen beziehen und inwieweit sie sich solcher Bezugsgrößen bewusst sind und sie reflektieren. Hieran schließt sich die Frage an, welche Formen von Tests – wenn überhaupt – produktiv für unterrichtliche Lernprozesse sein können und was für Motive Lehrer*innen mit dem Einsatz von Test verfolgen.

Ich werde diesen Fragen mit pragmatistisch fundierten soziokulturellen Theoriebildungen nachgehen. Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet die Annahme, dass Tests nicht nur auf Lernprozesse, sondern auch auf Lehrprozesse einwirken und damit auf die Gestaltung von Unterricht insgesamt. Mit Latour (2005, 71) kann man sagen, dass Tests im Unterricht „einen Unterschied machen“ und daher als Akteure von Unterricht betrachtet werden müssen. In diesem Sinne werde ich argumentieren, dass Tests kulturelle Artefakte sind und dass ihr Einsatz gesellschaftliche Perspektiven auf Bildung, Schule, Unterricht und die Lerner*innen und Lehrer*innen artikuliert. Dazu zählen u.a. Vorstellungen von Sprache und Sprachgebrauch, von Sprachentwicklung und (sprachlichen) Homogenitätsansprüchen, die mit deren Förderung verfolgte werden, aber auch Vorstellungen von Lerner*innen und Lehrer*innen.

Latour, Bruno (2005), Reassembling the social. An introduction to actor-network-theory. Oxford/New York: Oxford University Press. 

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Martin Reisigl

Der Diskurs über Sprachtests in österreichischen Medien – eine Kritische Diskursanalyse

Erziehungswissenschaftliche Forschung ebenso wie Bildungssprachenpolitik zielen darauf ab, den Erwerb sprachlicher Kompetenzen im Kontext schulischer Bildungsprozesse als Abfolge standardisierter Entwicklungsschritte empirisch mess- und steuerbar, das heißt verfügbar zu machen (vgl. Rosa 2020, 78-80) – unter anderem über Sprachtests, Sprachdstandserhebungen und die Formulierung von Bildungsstandards. Dabei gerät leicht aus dem Blick, dass sich entscheidende Momente von sprachlicher Bildung einem reduktionistischen quantifizierenden Zugriff entziehen, also unverfügbar bleiben. 

Der Vortrag geht auf die Frage ein, wie im politischen und medialen Diskurs in Österreich der Stellenwert von Sprachtests im Bildungskontext dargestellt und erörtert wird, welche Ziele und Strategien der involvierten politischen Akteur:innen sich im Mediendiskurs rekonstruieren lassen und wie die unterschiedlichen Diskursteilnehmer*innen aus ihren jeweiligen Positionen mit den sozial segregativen Effekte von Sprachtests umgehen. Der gewählte diskursanalytische Zugang ist bestrebt, die Rolle von Sprachtests in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang einzubetten, die Relevanz des quantitativen Messens von Sprachkompetenzen kritisch zu reflektieren (Cicourel 1974, Ehlich 1982, Rosa 2020) und Sprachtests als disziplinierende diskursive Kontrollprozedur zu erfassen (Foucault 1977, 1993), die dazu dient, Normalität zu produzieren (Link 2006) und inkorporiertes Kulturkapital zu generieren (Bourdieu 2015). 

Bourdieu, Pierre (2015): Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: VSA Verlag.

Cicourel, Aaron V. (1974 [1964]): Methode und Messung in der Soziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Ehlich, Konrad (1982): „Quantitativ“ oder „qualitativ“? Bemerkungen zu einer Methodologiediskussion in der Diskursanalyse. In: Köhle, Karl / Raspe, Hans-Henning (Hrsg.): Das Gespräch während der ärztlichen Visite. Empirische Untersuchungen. München, Wien, Baltimore: Urban & Schwarzenberg. 298-312.

Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Foucault, Michel (1993): Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt am Main: Fischer.

Link, Jürgen (2006): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Rosa, Hartmut (2020): Unverfügbarkeit. Berlin: Suhrkamp. 

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Anja Wildemann

Tests und Bildungsgerechtigkeit - eine kritische Sicht auf Prüfverfahren im Kontext von Mehrsprachigkeit

In ihrem wunderbaren Buch „Das geheime Leben der Sprachen“ mahnt Brizić in ihrem abschließenden Kapitel unter „Empfehlungen und Wünsche“ in Bezug auf die Sprachdiagnose mehrsprachiger Kinder:

„[…] – denn die getestete Sprache kann natürlich in vielen Fällen die tatsächliche Muttersprache sein; sie kann aber auch die „Zweit-Muttersprache des Kindes“, die „Noch-nicht-Muttersprache des Kindes“, die „Muttersprache des Kinds, aber nicht der Eltern“ oder aber „überhaupt niemandes Muttersprache“ sein und damit Funktionen im Leben des getesteten Kindes erfüllen, wie sie verschiedener nicht sein können.“ (Brizić, 2007, 351f.)

Diese Mahnung soll den Vortrag leiten, in dem bisherige Entwicklungen und Desiderata in der Sprachdiagnose im Kontext von Mehrsprachigkeit in den Blick genommen werden. Grundsätzlich stellt sich dabei die Frage, ob und wie durch Tests oder andere Diagnoseverfahren, durch die normative Setzungen erfolgen, Bildungsgerechtigkeit als „Form[en] von intersubjektiver Anerkennung wie Empathie, Respekt und sozialer Wertschätzung“ (Stojanov, 2011, 24) realisiert werden kann. Gefragt wird auch danach, ob Bildungsgerechtigkeit durch die vorhandenen Instrumente zur Sprach(stands)messung hergestellt oder oder nicht eher das Gegenteil erzeugt wird. Diese letzte Frage ergibt sich vor allem aus dem Umstand, dass bisherige Sprachdiagnoseverfahren kaum die Sprachpraxis der Lerner:innen zu erfassen vermögen (Schroeder& Stölting, 2005, 66). Daher werden auch die linguistischen und testtheoretischen Anforderungen einer Sprachdiagnose, die gesamtsprachliche Kompetenzen erfasst, skizziert.

Brizić, K. (2007). Das geheime Leben der Sprachen. Gesprochene und verschiedene Sprachen und ihr Einfluss auf den Spracherwerb in der Migration. Waxmann.

Schroeder, C. & Stölting, W. (2005). Mehrsprachig orientierte Sprachstandsfeststellungen für Kinder mit Migrationshintergrund. In: Gogolin, I., Neumann, U. & Roth, H.-J. (Hrsg.): Sprachdiagnostik bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Waxmann, S. 59-74.

Stojanov, K. (2011). Bildungsgerechtigkeit. Rekonstruktionen eines umkämpften Begriffs. Springer VS.

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